Mehr als fünftausend Tunesier kämpfen in den Rängen von Al Qaida und dem Islamischen Staat. Warum sind ausgerechnet die tunesischen Jugendlichen so anfällig für extremistische Ideen?

“Er hat gesagt, er würde sich mit einem Freund zum Lernen treffen und bei ihm übernachten. Am nächsten Tag hat er uns eine SMS geschickt, dass er in Syrien sei.“ Iqbel Ben Rejebs Stimme zittert auch heute noch ein bisschen, wenn er von diesem Tag Anfang März 2013 erzählt, als sein Bruder Hamza verschwand. Der Informatik-Student war von der Nusra-Front angeworben worden, einer syrischen Gruppe islamistischer Kämpfer gegen Bashar Al Assad. Über Libyen war er nach Syrien gereist. Er solle sich um deren Webseiten und Internet-Propaganda kümmern, wurde ihm erklärt, er sei ein Computer-Genie und solle „elektronischen Djihad“ führen. Hamza ist schwer körperbehindert und sitzt im Rollstuhl. „Ein Glas Wasser kann er nur mit Mühe mit beiden Händen anheben. Ich kann mir höchstens vorstellen, dass sie ihm eine Bombe in den Rollstuhl packen und ihn damit in die Luft jagen wollten“, sagt sein älterer Bruder. Die Familie hätte damals nicht im Traum daran gedacht, dass ihr Sohn sich so radikalisieren würde. Von der Gehirnwäsche, der der Sohn unterzogen wurde, hatten sie nichts mitbekommen. „Ich bete nicht, meine Schwester trägt kein Kopftuch, bei uns zu Hause läuft Musik und der Fernseher. Er hat sich nie darüber beschwert“, erzählt Hamzas älterer Bruder Iqbel. Wie radikal Hamzas Gedanken waren, hatte die Familie erst bemerkt, als es schon fast zu spät war.

Der Familie gelang es nach wenigen Tagen, Hamza aus Syrien nach Tunesien zurückzuholen. Iqbel Ben Rejeb gründet daraufhin den „Verein zur Rettung im Ausland festsitzender Tunesier“. Ihr Ziel: den Kämpfern, die bereits im Ausland sind, den Ausstieg zu ermöglichen und gleichzeitig in Tunesien verhindern, dass sich noch mehr Jugendliche extremistischen Gruppen anschließen.

Mehr als fünftausend Tunesier kämpfen in den Rängen verschiedener radikalislamischer Gruppen, die meisten in Syrien, so ein aktueller Bericht des Menschenrechtskommissariats der Vereinten Nationen. Zwar gab es bereits seit den 1990er Jahren tunesische Kämpfer zum Beispiel in Afghanistan und Tschetschenien, doch erst mit dem politischen Umbruch 2011 ist die Zahl derer, die sich terroristischen Gruppierungen angeschlossen haben, sprunghaft angestiegen. Zunehmend werden sie auch im eigenen Land aktiv. Immer wieder griffen Terroristen in den vergangenen Jahren Sicherheitskräfte in Tunesien. Zum ersten Mal wurden mit den Anschlägen auf das Bardo-Museum im März und den Anschlag auf ein Hotel in Sousse im Juni 2015 gezielt Zivilisten getötet.

Der Historiker und Sicherheitsexperte Faysel Cherif sieht zwei Hauptgründe, warum ausgerechnet Tunesien so viele Djihadisten produziert. Einer davon ist ausgerechnet der zunächst erfolgreiche politische Umbruch selbst. „Viele wollten diese Revolutionseuphorie in die arabischen Länder exportieren, wo der Umbruch nicht gelungen war.“ Nicht alle Kämpfer seien zunächst religiös motiviert gewesen, so Cherif, viele seien erst im Ausland radikalisiert worden. In Tunesien selbst begannen bereits 2011 Extremisten, junge Leute anzuwerben. Die meisten führenden Köpfe waren unter dem Ben Ali-Regime zu langen Haftstrafen verurteilt worden und kamen in den Wirren der Revolution frei – bei Gefängnisausbrüchen wenige Tage vor dem Sturz des Diktators und bei zwei Generalamnestien im Frühjahr 2011, bei denen sie zusammen mit politischen Gefangenen der Diktatur freigelassen wurde.

„Die Zielgruppe sind junge Leute von 18 bis 25 Jahren, die noch nicht sehr gefestigt sind in ihrem Leben. Denen setzen sie in den Kopf, dass sie Syrien von Bachar el Assad befreien könnten“, erklärt Iqbel Ben Rejeb die Taktik der Anwerber. Dass radikale Ideen in Tunesien bei jungen Leuten auf fruchtbaren Boden fallen, hat vor allem historische Gründe, so Cherif. Denn die Generation derjenigen, die heute im Ausland und in Tunesien selbst für extremistische Ideen kämpfen, sind unter der Diktatur Ben Alis großgeworden. „Das Problem des Terrorismus ist nur zu 20% ein Sicherheitsproblem. Zu 80% ist es ein kulturelles Problem“, so der Sicherheitsexperte Cherif. Ben Ali habe alles getan, um den internationalen Institutionen zu gefallen und wirtschaftliche Erfolge zu präsentieren, dabei aber die Gesellschaft vergessen.

Abitur und Studienabschlüsse wurden inflationär vergeben und die Qualität des Unterrichts sank. Die meisten Hochschulabgänger finden sich heute ohne Arbeit auf der Straße wieder: rund 600 000 der 11 Millionen Tunesier sind arbeitslos, Perspektiven auch im Jahr fünf nach dem politischen Umbruch nicht in Sicht. Dass die meisten islamistischen Kämpfer aus den naturwissenschaftlichen Zweigen kommen, wundert Cherif nicht. „Sie haben nie gelernt, einen Text zu analysieren, auch den Koran nicht. Sie lassen sich leicht von selbsternannten Religionsgelehrten manipulieren.“

Die tunesische Regierung und die Zivilgesellschaft habe der Propaganda der Extremisten wenig entgegenzusetzen, klagt Cherif. „Wenn sie sich hier mal umschauen, was gibt es, abgesehen von der Moschee? Nichts.“ Jugendhäuser, Kulturangebote und andere Freizeitmöglichkeiten sind gerade im Landesinneren Tunesiens Mangelware.

Zwischen 3000 und 10 000 US-$ für jeden Kämpfer erhalten die Anwerber, so die Vereinten Nationen. Außerdem werden die Familien von Djihadisten von Wohltätigkeitsorganisationen finanziell und materiell unterstützt. Diese sollen jetzt, so die tunesische Regierung, strenger kontrolliert werden, genauso wie Moscheen, wo radikale Prediger zum Djihad aufrufen.

Viel zu lange habe die ehemalige tunesische Regierung unter Führung der islamischen Ennahdha-Partei nach der Revolution die Augen vor den Aktivitäten radikaler Gruppierungen verschlossen, ist Iqbel Ben Rejeb überzeugt. Erst im Sommer 2013 wurde Ansar Al Sharia, die größte radikalislamistische Gruppe Tunesiens, von der Regierung zur Terrororganisation erklärt und verboten. Ihre führenden Köpfe wurden bis heute nicht verhaftet. „Wenn der damalige Religionsminister in einer der größten Moscheen der Hauptstadt zum Kampf gegen Assad aufruft“, dann sei das ein indirekter Aufruf zum Djihad, empört sich Ben Rejeb.

Mit den zwei Anschlägen auf das Nationalmuseum Bardo und ein Hotel in Sousse, bei denen dieses Jahr 60 vor allem ausländische Touristen ums Leben kamen, wird die Radikalisierung tunesischer Jugendlicher auch im eigenen Land zunehmend zur Gefahr. Die tunesische Regierung setzt zur Zeit vor allem auf repressive Maßnahmen, um das Problem in den Griff zu kriegen. Mehr als 15 000 Verdächtige wurden seit Anfang des Jahres überprüft, mehr als 700 Personen seit dem Anschlag in Sousse vor einem Monat festgenommen, brüstet sich Tunis. Tunesier unter 35 Jahren dürfen nicht mehr in bestimmte Länder wie zum Beispiel Libyen, die Türkei oder Serbien reisen, die typische Durchgangsstationen in Richtung Syrien und Irak sind.

Das sei ein erster Schritt in die richtige Richtung, mein Faycel Cherif, um das Problem kurzfristig in den Griff zu kriegen, jedoch bei weitem nicht genug. „Wir brauchen eine Strategie. Sie könne heute 30, 40 Zellen hochnehmen und ein paar hundert Leute ins Gefängnis stecken, die Maschine wird trotzdem weiterlaufen und zwei-, drei-, viertausend Neue ausspucken.“ Denn oft beginnt die Radikalisierung junger Leute in den Gefängnissen selbst. Ein Drittel der tunesischen Häftlinge, rund 8000 Personen, sitzen wegen des Konsums von Cannabis in Haft. Meist sind es junge Leute, die leicht zu beeinflussen sind. „Sie dürfen die Djihadisten nicht mit anderen Straftätern in eine Zelle setzen, sonst werden sie die im Gefängnis rekrutieren. Die Syrien-Rückkehrer sitzen mit Kleinkriminellen zusammen, sie müssen isoliert werden“, fordert Ben Rejeb.

Die größere Herausforderung wird es sein, eine langfristige Strategie zu schaffen, damit sich junge Leute den Extremisten gar nicht erst anschließen. „Die Leere, die die tunesische Jugend über lange Jahre hin erlebt hat, hat diesen Strömungen alle Freiheiten gegeben, in unsere Gesellschaft einzudringen und viele junge Leute zu radikalisieren“, gibt auch Tunesiens Regierungschef Habib Essid zu. „Arbeit zu schaffen, vor allem in den Regionen, ist ein wichtiges Ziel, damit die jungen Leute wirtschaftlich unabhängig werden und sich nicht diesen Strömungen anschließen. Wir kommen voran, aber nur langsam.“

Doch ein Gegenprojekt zur Propaganda der Djihadisten zu schaffen, müsse noch umfassender ansetzen, fordert Iqbel Ben Rejeb. Ohne Schulen, Jugendclubs und Moscheen ginge es nicht. Im September will die Regierung einen Kongress organisieren, an dem die staatliche Institutionen zusammen mit der Zivilgesellschaft eine Strategie gegen die Radikalisierung junger Leute auf die Beine stellen will. Ben Rejebs jüngerer Bruder Hamza spricht nach wie vor nicht öffentlich über seine Erlebnisse in Syrien. „Aber er hat das Logo unseres Vereins entworfen“, erzählt Iqbel Ben Rejeb mit einem stolzen Lächeln.