Mit Moncef Marzouki steht ein imminenter Menschenrechtler an der Spitze des tunesischen Staates. Trotz Reibungsverlusten und herben Rückschlägen setzt er auf den Dialog mit allen politischen Kräften des Landes – sehr zum Ärger der tunesischen Opposition, die ihn wahlweise für einen naiven Idealisten halten oder aber denken, dass ihm die Macht gefährlich zu Kopf gestiegen ist.

Herr Präsident, sie haben immer auf Einigung und Moderation zwischen den verschiedenen politischen Kräften gesetzt. Hat diese Strategie in Tunesien nach dem Mord an Chokri Belaid noch ihre Berechtigung?

Moncef Marzouki: Natürlich, mehr denn je. Denn wenn dieses Land die sozio-ökonomischen Probleme angehen will, dann braucht es politische Stabilität – sie ist die Basis für jede gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung. Ich will, dass diese Übergangszeit so kurz wie möglich ist, und dass wir einen Konsens finden in Hinblick auf die Verfassung und die Regierung. Wir brauchen diese versöhnende Botschaft um das Land zu befrieden, damit der pazifistische Übergang zur Demokratie weitergeht.

Tunesien hat die Krise noch nicht überwunden – wie kann die Lösung mit der neuen Regierung unter Führung von Premierminister Ali Larayedh aussehen?

Wir haben die Probleme eines Landes, das gerade eine Revolution durchlebt hat und dabei ist, demokratische Strukturen aufzubauen. Wenn Sie das mit einem anderen demokratischen Land vergleichen, werden Sie sehen, dass wir ein demokratisches Leben führen, dass die Menschen demonstrieren. Wenn Sie den Vergleich mit den anderen arabischen Staaten ziehen, dann sehen Sie einen ganz klaren Unterschied. Portugal hat acht Jahre für die Demokratisierung gebraucht, die Spanier drei, wir machen es in zwei. Tunesien hat politische Krisen durchlebt, aber das Land ist immer stabil geblieben. Wir sind ein lebendiges Land, mit den Krisen die dazugehören, aber ich finde wir kommen ganz gut klar.

In welchen Bereichen läuft es denn gut?

Vor zwei Jahren herrschte hier noch eine Dikatur, ohne Meinungsfreiheit, ohne Demonstrationsfreiheit, ohne die Möglichkeit, gemeinnützige Vereine zu gründen – diese Freiheiten sind jetzt zu mehr als 100% erreicht. Die Presse schimpft von morgens bis abends auf die Regierung und den Präsidenten, es sitzen keine Journalisten mehr im Gefängnis und die Sender können frei arbeiten. Mehr als tausend Nichtregierungsorganisationen wurden gegründet, mehr als hundert Parteien, und es gibt freie Demonstrationen. In dieser Hinsicht ist der Übergang vollendet. Im sozioökonomischen Bereich sind wir im Verzug, weil wir feststellen mussten, dass die Situation noch schlimmer ist als wir dachten. Wir arbeiten daran, aber wir haben keinen Zauberstab. Wir hören nicht auf das zu erklären. Wir können nicht von heute auf morgen irgendwo eine Fabrik hinstellen. Auch wenn wir das Problem der Arbeitslosigkeit bis jetzt nicht regeln konnten: wir sind dabei, das Land auf den richtigen Weg zu bringen.

Sie sprechen von Pressefreiheit, doch die Regierung hat in der Vergangenheit mehrfach willkürlich Direktoren an der Spitze des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks ernannt und die Regulierungsbehörde für die Audiovisuellen Medien (HAICA), die schon im November 2011 gesetzlich verankert wurde, ist immer noch nicht geschaffen.

Ich hätte die Regulierungsbehörde schaffen können, aber ich habe es nicht getan, denn ich bevorzuge den Konsens. Wir nehmen uns Zeit, damit diese Institutionen auf einem möglichst weiten Konsens beruhen. Das ist eine langwierige, komplexe und frustrierende Arbeitweise und manchmal will man einfachen entscheiden, wie es gemacht wird. Aber ich bevorzuge den schwierigsten Weg zu nehmen, denn das garantiert, dass wir wirklich solide Institutionen haben werden. Das gleiche gilt auch für die Wahlbehörde und das Gesetz zur Unabhängigkeit der Justiz: Dialog, Dialog und nochmal Dialog. Wir verlieren dabei unglaublich viel Zeit und Energie, aber das ist für uns der wahre Lernprozess der Demokratie.

Die Verfassung sollte schon Ende letzten Jahres fertig werden. Haben Sie Angst, dass die Bevölkerung die Geduld verliert?

Die Tunesier sind das nicht gewöhnt, dass ihre Abgeordneten sich streiten, auch wenn das auf der ganzen Welt der Fall ist. Sie sind gewöhnt, dass ihnen befohlen wird und dass quasi sie gepeitscht werden, und das seit zweitausend Jahren. Heute müssen sie lernen und akzeptieren, dass Demokratie eben auch Diskussionen, Langsamkeit und Energieverlust bedeutet. Das ist der Preis, den wir zahlen müssen für eine Verfassung, die alle Tunesier repräsentiert. Natürlich hätte uns ein Expertenkommittee in zwei Wochen eine Verfassung schreiben können, aber wir haben den komplexen Weg gewählt, und der wird uns garantieren, dass die Verfassung möglichst langlebig sein wird.

Gleichzeitig wird das Land von Streiks und steigenden Lebensmittelpreisen gebeutelt. Wie sieht ein möglicher Ausweg aus?

Die Wirtschaft ist neben der Sicherheit und den Wahlen eine der drei Prioritäten der Regierung Larayedh. An den steigenden Preisen sind aber auch Faktoren beteiligt, auf die wir nur bedingt Einfluss haben. Da sind zum einen eine Millionen libysche Flüchtlinge, die über wesentlich mehr Geld verfügen als die Tunesier. Dann der Schmuggel über die Grenzen, der dazu führt dass das Land ausblutet, und die steigenden Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt. Wir versuchen den Schmuggel einzudämmen und die Grenzkontrollen zu verschärfen, aber das ist eine komplexe Angelegenheit und leider entgleiten uns viele Faktoren.

An der Grenze werden Kalashnikovs für 200 Dinar (100 Euro) verkauft, Tunesien ist zum Durchgangsland für Waffenschmuggel geworden und mehr als einen Monat nach der Mord an Chokri Belaid ist der mutmaßliche Täter zwar identifiziert, aber nach wie vor nicht festgenommen. Sind die tunesischen Sicherheitskräfte überfordert?

Die einzige Aufgabe des tunesischen Sicherheitssystems war, über mehr als 20 Jahre, das Regime zu verteidigen, und zwar mit allen Mitteln, auch mit Folter. Heute ist die Aufgabe der Sicherheitskräfte, das Land zu verteidigen. Vorher hat Ben Ali befohlen und die Justiz war nur da, um seine Anordnungen umzusetzen. Wir können nicht von einem Land fordern, demokratisch zu sein, und gleichzeitig diktatorische Mittel andwenden, um die Sicherheit zu garantieren. Wir arbeiten eng mit Libyen und Algerien zusammen, um die Situation in den Griff zu bekommen. Wir dürfen Tunesien nicht an Einzelvergehen beurteilen, sondern im Kontext.

Dass die Polizei wie zum Beispiel in Siliana im November auf Demonstranten schießt, war das ein Einzelvergehen ?

Die Polizei hat nicht mit scharfer Munition geschossen, sondern mit Schrotgewehren. In anderen Ländern wäre das nicht der Fall gewesen. Wir haben eine Untersuchungskomission eingesetzt und die Verantwortlichen werden bestraft werden.

Sie haben kürzlich vor dem Europaparlament gesagt, dass die Post-Revolution schwieriger sei als die Revolution selbst. Wo liegt die größte Herausforderung?

Das ist eine psychologische Herausforderung. Die Leute denken, dass sich die Probleme nach einer Revolution einfach auflösen, dabei verändern sie sich nur: früher hatten wir die Probleme, die einer Dikatur eigen sind, heute die einer Demokratie. Es gibt natürlich sofort konkrete Ergebnisse der Demokratie: dass die Menschen keine Angst mehr haben, das ist herausragend. Aber vor allem die wirtschaftlichen Erwartungen sind so hoch,  dass es natürlich auch Enttäuschen gibt. Zu fordern, dass es von heute auf morgen keine Korruption mehr gibt und alle Arbeit bekommen, das ist das Unmöglich fordern. Und wenn man das Unmöglich fordert, dann erhält man es nicht.

Was tun sie konkret, um die Situation zu beruhigen und zu verhindern, dass es zu erneuten Aufständen kommt?

Es wird keine zweite Revolte geben, auch wenn es mehrere Versuche gab, den Frust der Bevölkerung zu nutzen, um eine zweite Revolution loszutreten. Aber gegen wen denn? Gegen eine demokratisch gewählte Regierung, gegen Menschen, die die Korruption bekämpfen und versuchen, mit begrenzten Mitteln die unbegrenzten Bedürfnisse der Menschen zu stillen? Und wenn danach jemand anderes an die Macht käme, was könnte der denn tun? Den Haushalt einfach so vervierfachen? Das wissen die Leute, und deshalb bleibt das Land trotz aller Demonstrationen ruhig.

Sie betonen, dass der Aufstand in Tunesien vor allem soziale und wirtschaftliche Gründe hatte, aber wenn man die Debatten in der Verfassungsversammlung und den Medien verfolgt, dann geht es vor allem um Fragen der Identität.

Es gibt zwie Arten von Extremismus in Tunesien: zum einen den religiösen Extremismus –  der Salafismus selbst ist nur eine Fassade eines sozialen Problems: das Lumpenproletariat, dem es am Minimum fehlt, und dass sich aufschwingt gegen Ennahdha, die sie für eine bürgerliche islamistische Partei hält – und auf der anderen Seite haben sie die laizistischen Extremisten, die Pickel kriegen wenn sie nur Islamisten oder sogar nur das Wort Islam hören. Diese Leute schaffen Probleme, die nicht die eigentlich wichtigen sind. Für die Mehrheit der Tunesier sind die wichtigen Fragen Brot, Wasser, Elektrizität und wirtschaftliche Entwicklung. Manche denken, die Probleme innerhalb der Troika [Regierungskoalition aus Ennahdha, Takatol und CPR] wären Probleme zwischen Religiösen und Säkularen. Das ist völlig falsch. Ich habe mit Ennahdha nie über Kopftücher oder persönliche Freiheiten diskutiert, da sind wir uns einig. Aber wir haben Meinungsverschiedenheiten was das Entwicklungsmodell des Landes angeht. Ich bin Sozialdemokrat, sie sind wirtschaftsliberal. Das sieht man dem Haushalt an, da liegen die wahren Probleme und das ist die wahre Politik.

Die Brandanschläge auf Mausoleen in den letzten Monaten…

Das sind Provokationen obskurer Kräfte, wir können noch nicht mal sicher sein, dass da wirklich Salafisten dahinterstecken. Wir haben Anlass zu glauben, dass dahinter ehemalige RCDler [Mitglieder der Regierungspartei von Ben Ali] und Ben Ali-Anhänger stecken, die das Land ins Chaos stürzen wollen, damit sich die Tunesier sich gegenseitig an die Gurgel gehen.

Stellen religiöse Extremisten kein Problem für die Sicherheit dar?

Sie stellen vor allem ein Problem für das Ansehen des Landes und den Tourismus dar, nicht für die Sicherheit des Landes. Sie werden das Land nicht ins Chaos stürzen. Aber vor allem die internationale Presse stürzt sich auf jedes Vorkommnis. Aber die Journalisten sprechen nicht davon, dass wir eine Verfassung schreiben, dass wir einen ständigen Dialog führen, dass ich einmal im Monat alle Oppositionsparteien in den Palast einladen. Da sieht man wirklich den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr: der Baum der Salafisten verdeckt den Wald der wirtschaftlichen Entwicklung und des Aufbaus eines tunesischen Modells der Demokratisierung.

Wie sehen Sie Ihre Rolle innerhalb des Demokratisierungsprozesses? Sie haben manchmal schon daran gedacht, zurückzutreten.

Als Baghdadi Mahmoudi [der ehemalige libysche Premierminister] gegen meinen Willen und ohne meine Kenntnis ausgeliefert wurde, habe ich mein Rücktrittsschreiben verfasst. Denn das war ein Angriff auf die Ehre Tunesiens.

Warum sind Sie dann doch nicht zurückgetreten?

Ich habe mich vor allem gefragt, welches die Kehrseite meines Rücktritts gewesen wäre, denn ich bin eines der stabilisierenden Elemente des Landes. Mein Ziel ist es, das Land bis zu den Wahlen zu stabilisieren. Die aktuelle Periode ist sehr heikel . Alle Akteure müssen sehr verantwortungsbewusst handeln, und da muss man manchmal eine Kröte schlucken.

Hatten Sie als imminenter Menschenrechtler nicht Angst, in dieser Situation ein Stück ihrer Glaubwürdigkeit zu verlieren?

Mich interessiert nicht die Glaubwürdigkeit, sondern was ich in diesem Amt bewirken kann.  Als ich es angetreten habe saßen zweihundert Gefangene im Todestrakt, auch wenn die Strafe nicht angewandt wurde. Ich habe sie in lebenslange Haft umgewandelt. Ich habe rund 13 000 Gefangenen die Strafe erlassen. Ich habe einen de facto unabhängigen Nationalen Menschenrechtsrat eingerichtet, der unangemeldet Gefängnisse und Polizeiwachen inspizieren kann, um sicherzustellen, dass nicht gefoltert wird. Ich bin präsent, um sicherzustellen, dass all die Ideale, für die ich gekämpft habe, Wirklichkeit werden. Ich glaube ich habe einige Dinge getan, auf die ich stolz sein kann.

Viele Länder der Europäischen Union haben lange Ben Ali unterstützt, heute unterstützt die EU die neue Regierung, kritisiert aber auch das Erstarken der Islamisten – ist Europa für Sie trotzdem ein glaubwürdiger Partner?

Die EU ist unser wichtigster Partner und wir wollen, dass sie es bleibt. Es stimmt, dass viele Europäer Islamisten und Terroristen gleichsetzen – die werden ihre Wahrnehmung ändern müssen und lernen, dass es verschiedene Islamismen gibt. Für mich als Menschenrechtler ist es eine große Befriedigung, dass wir diesem weiten islamistischen Spektrum, dass zum Teil sehr konservativ bis salafistisch ist, einen ganze Menge entreißen und aus ihnen zu Demokraten machen konnten. Das ist ein Sieg für die arabischen Demokraten, einen Teil des Islamismus demokratisieren zu können. Wie die Christdemokraten in Europa wird es hier islamische Demokraten geben, die konservativ sind, aber die Demokratie respektieren. Und mit denen werden wir zusammenarbeiten.

Was erwarten Sie konkret von Europa?

Lassen Sie mich von Deutschland sprechen. Deutschland hat eine reiche Erfahrung im Aufbau eines Verfassungsgerichts. Wir wollen in unserer neuen Verfassung ebenfalls ein starkes Verfassungsgericht verankern, in diesem Bereich kann uns Deutschland unterstützen. Wir sind sehr froh, dass Deutschland akzeptiert hat, einen Teil der Schulden in Entwicklungsprojekte umzuwandeln. Außerdem wollen wir eine deutsch-tunesische Universität gründen, und im Schlüsselsektoren wie zum Beispiel dem Energiebereich zusammenarbeiten. Außerdem

Die Frage nach der Bedeutung der Regionen stellt sich in Tunesien seit der Revolution immer wieder – ist das deutsche Modell auch für Tunesien interessant?

Auf jeden Fall. Ich habe ein Projekt vorgeschlagen, Tunesien in sieben Regionen mit starker auch wirtschaftlicher Unabhängigkeit aufzuteilen. Es wäre wünschenswert wenn Deutschland dann eine Art Patenschaft übernehmen könnte, und zwar auf allen Ebenen, von der Zivilgesellschaft über die Regionen bis zu staatlicher Ebene.