Proteste gegen die lokalen Behörden, Unterstützung durch den Gewerkschaftsverband, und die Polizei, die hart durchgreift: Die Situation in Siliana erinnert an den Dezember 2010, als in Tunesien die Proteste losbrachen, die zur Flucht Ben Alis führten.

Die Gründe für die Proteste sind die gleichen wie schon vor zwei Jahren: Armut, Arbeitslosigkeit und Wut gegen die regionalen Behörden. Die wirtschaften das Geld in die eigene Tasche, so der Vorwurf der Demonstranten.

Seit Dienstag hat der Gewerkschaftsverband UGTT in der 25 000 Einwohner-Stadt Siliana zu einem unbefristeten Streik aufgerufen, er fordert den sofortigen Rücktritt des Gouverneurs, den Ennahdha Ende Februar 2012 eingesetzt hatte. „Er spricht davon, dass mehr als 60% der vorgesehenen lokalen Entwicklungsprojekte realisiert wurden, aber abgesehen von zwei neuen Zäunen, vor seinem Haus und vor einer Schule, wurde hier gar nicht gebaut. Ist das etwa Entwicklung?“ empört sich Ahmed Chaffai, stellvertretender Generalsekretär der UGTT.

6000 Arbeitslose zählt Siliana, das rund 130km südwestlich von Tunis liegt – mehr als 4000 davon haben einen Hochschulabschluss. Die Investitionen im Gouvernorat sind in den ersten zehn Monaten dieses Jahres im Vergleich zu 2011 um fast 45% zurückgegangen, die Zahl der Arbeitsplätze gar um zwei Drittel. Die Wut der Einwohner ist groß, und die brutalen Polizeieinsätze gegen die zunächst friedlichen Demonstrationen schüren den Ärger noch mehr. „Die Polizisten haben sich vor den Frauen entblößt und sie beschimpft“, erzählt eine junge Frau. Ihr Gesicht und Körper sind von kleinen Einschusswunden übersäht. Die Polizei hat mit Schrotgewehren offenbar gezielt auf die Demonstranten geschossen, mindestens dreihundert Personen wurden verletzt, so die Ärzte des lokalen Krankenhauses. Rund zwanzig wurden an den Augen getroffen und drohen dauerhaft zu erblinden. Die Bevölkerung von Siliana  fordert inzwischen nicht mehr nur den Gouverneur,  sondern auch Premierminister Hamadi Jbeli zum Rücktritt auf.

Dieser will zwar die Übergriffe der Polizei untersuchen lassen,  beharrt aber darauf, dass der Gouverneur im Amt bleibt. Die Zeit des Dégage („Hau ab“), des Slogans den die Demonstranten im Januar 2011 gegen Ben Ali skandierten, sei vorbei, so Jbeli. „Er hat wohl vergessen, dass er nur im Amt ist, weil wir ‚Dégage, Ben Ali!‘  geschrien haben. Und jetzt sagen wir ‚Hamadi Jbeli, dégage!‘ Wir machen jetzt eine echte Revolution“, ruft die verletzte Mittzwanzigerin.

„Das einzige, was sich für uns mit der Revolution verändert hat, ist die Meinungsfreiheit“, erzählt ein junger Demonstrant. Er hat 2010 seinen Hochschulabschluss gemacht und ist seitdem arbeitslos, seine ältere Schwester sucht schon seit acht Jahren ein Arbeit – vergeblich.

Die sozialen Spannungen nehmen in Tunesien knapp zwei Jahre nach dem Aufstand erheblich zu und die Regierung steht zunehmend unter Druck. Denn die Verfassung, die eigentlich schon fertig sein sollte, kommt nicht voran, und die Wirtschaft leidet unter der instabilen politischen Situation. Im Landesinneren, von dem schon Ende 2010 die Protestbewegungen ausgingen, hat sich für viele Bewohner die wirtschaftliche Lage nochmals verschlechtert.

Das ist Wasser auf die Mühlen der UGTT, die schon Ende 2010 die Revolte unterstützte und einen wichtigen Gegenpol zur Regierung bildet. Die Regierungstroika um die Ennahdha-Partei hat unterdessen Mühe, ein klare Linie zu finden, während die Opposition das Anliegen der Demonstranten in Siliana verteidigt. Nadia Chaabane, Abgeordnete der Opposition, fordert den Rücktritt des Gouverneurs, um die Lage zu beruhigen. “ Wir können nicht mehr so weitermachen. Die Regierung spricht von Dialog, aber praktiziert ihn nicht. Sie ist autistisch und kann nicht kommunizieren.“ Siliana sei nur ein Beispiel und Chaabane fürchtet, dass bald auch andere Städte in den Regionen aufbegehren werden.

In Siliana machten sich am Morgen Tausende Bewohner zu einem friedlichen Protestmarsch in Richtung Tunis auf. Am Nachmittag kam es erneut zu schweren Auseinandersetzungen, als Jugendliche einen Polizeiposten mit Steinen bewarfen. Die Polizei setzte Tränengas und Schlagstöcke ein, mehrere Personen wurden verletzt. Auch in Tunis und Kef kam es zu Demonstrationen. Präsident Moncef Marzouki wird sich am Abend in einer Fernsehansprache an die Bevölkerung wenden. Für das Wochenende haben Oppositionsparteien und Zivilgesellschaft zu Protesten in verschiedenen Städten aufgerufen.

© Sarah Mersch